Zur Lage in der Ukraine

Putin hat sich in den Reaktionen des Westens geirrt

Und zudem im militärischen Verhalten der Ukrainer

So eine der Kernaussagen im Interview mit MdB Alexander Müller. Er ist

Dipl. Informatiker und als Mitglied des Bundestages Obmann im Verteidigungsausschuss, Sprecher für Rüstung und Beschaffung der FDP-Bundestagsfraktion und Reserveoffizier. Beruflich ist er IT-Experte und lebt in Niedernhausen. Verlagsleiter des NA, Haiko Kuckro und die Redaktion mit Eberhard Heyne haben ihn zu der aktuellen Einschätzung des Krieges in der Ukraine befragt.

Frage: Die Menschen hierzulande beschäftigt neben der sozialen Not in der Ukraine besonders die Frage, ob sich der Krieg auch auf die Mitglieder der NATO ausweiten kann. Ist das wahrscheinlich?

Antwort: Nein – militärisch hat die russische Armee ihre Streitmacht nun in und um die Ukraine konzentriert. Die Reserven des russischen Militärs sind begrenzt. Eine zweite Front mit der Gefahr einer Eskalation bis hin zum Einsatz von Kernwaffen werden der russische Präsident Putin und seine Militärführung vermeiden. Zumal die NATO einhellig ihre Bündnisverpflichtung nach Artikel 5 des Beistandsvertrages betont, jede militärische Verletzung eines NATO-Partners als einen Angriff auf alle Bündnispartner zu betrachten und bereit ist, sofort reagieren zu wollen. Zudem haben die USA und Russland ihre bilateralen Kommunikationswege verstärkt und verbessert, um zu vermeiden, dass sich durch Missverständnisse oder Irrtümer eine militärische Reaktion ergeben kann.

Frage: Die Ukraine fordert wegen der Intensivierung der Luftangriffe verzweifelt eine Luftraumkontrolle durch die NATO. Ist das möglich?

Antwort:  Möglich schon, aber höchst gefährlich. In Rumänien und Estland sind –  neben den nationalen Luftstreitkräften der Nachbarländer Polen und anderen –  Eurofighter der Bundeswehr stationiert. Eine solche Erklärung zur Sperrung des Luftraumes über der Ukraine muss überwacht, kontrolliert und durchgesetzt werden. Das würde eine unkalkulierbare Eskalation des Krieges mit dem dann notwendigen Abschuss russischer Flugzeuge bedeuten und als „Provokation“ mit einer nicht vorhersehbaren Reaktion des russischen Präsidenten beantwortet werden. Zumal derzeit keine erkennbare „Opposition“ in der Regierung und dem Sicherheitsrat zu Putins Absichten im Konflikt erkennbar sind.

Frage: Wie sind Wladimir Putin und seine Ziele einzuschätzen?

Antwort: Als ehemaliger Agent und KGB-Mann hat, soweit man das sagen kann, Wladimir Putin das Handwerk von Geheimdienst und Repression in der Sowjetunion gelernt. Er ist nicht verrückt, sondern hat als „kalter Stratege“ die Option im Sinn, ähnlich wie in der Sowjetunion – deren Zerfall er als großes politisches Desaster empfindet –  erneut eine großrussische Macht mit Einflusssphären in Ländern der Nachbarschaft des russischen Kernlandes zu etablieren. Mit der Annektion der Krim und der eher verhaltenen Reaktion des Westens hat er wohl geglaubt, dass sich mit der Anerkennung der ostukrainischen Landesteile Donezk und Luhansk und nun auch mit dem Überfall auf die Ukraine der Westen und die NATO abfinden werden. Er hat sich verschätzt.

Frage:  Wie ist die militärische Vorgehensweise in der Ukraine einzuordnen?

Antwort:  Die bisherigen militärischen „Ergebnisse“ und Geländegewinne sind für die russischen Angreifer desaströs. Der Widerstand der hoch motivierten ukrainischen Verteidiger ist überraschend wirkungsvoll. Also sollen Luftangriffe die Städte zerstören, wie in Grosny in Tschetschenien und Aleppo in Syrien geschehen. Ein Häuserkampf und eine dauerhafte Besetzung der Ukraine ist mit dem wahrscheinlich dann folgenden Widerstand der ukrainischen Bevölkerung mit den begrenzten russischen militärischen Ressourcen wohl kaum durchzuhalten.

Frage:  Warum die Ukraine nicht jetzt zum EU-Beitittskandidaten ernennen?

Antwort:  Es besteht lt. Artikel 42 des EU-Arbeitsvertrages eine dedizierte militärische Beistandsverpflichtung aller EU-Länder. Diese ist derzeit politisch und auch militärisch nicht zu erfüllen. Zudem ist ein Beitritt an Bedingungen geknüpft, die in langfristigen Prüfungen erfüllt werden müssen. Folglich jetzt auch von allen EU-Regierungen abgelehnt worden.

Frage: Ist eine militärische Aufrüstung der Bundeswehr mit 100 Milliarden Sondervermögen und eine Aufstockung des Wehretats notwendig?

Antwort:  Ja, unbedingt. Die Bedrohungslage und die europäische Friedensordnung haben sich verändert. Die Bundeswehr muss künftig wieder uneingeschränkt ihrer Aufgabe zur Landesverteidigung und der Bündnisverpflichtung mit der NATO gerecht werden. Der Betrag entspricht Untersuchungen über das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und ist im Weißbuch der Sicherheitspolitik vermerkt. Wichtig ist aber, wie das Geld ausgeben wird. Dazu muss das derzeit bürokratische Beschaffungswesen mit ca. 13.000 Menschen im Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung und seinen wehrtechnischen Dienststellen reformiert werden.

Frage:  Ist unsere Energieversorgung gefährdet und wie ist die Preisentwicklung?

Antwort: Öl und Gas aus Russland fließen derzeit entsprechend den Lieferverträgen. Das bedeutet Zahlungen von nahezu 800 Millionen Euro täglich und diese finanzieren damit auch Putin´s Krieg. Als Alternative fehlen uns derzeit verlässliche Lieferanten und wir haben keine Terminals für Flüssiggas (LPG) als Alternative zum russischen Gas. Wir sind also noch auf diese Lieferungen angewiesen. Die Regierung sucht aber Auswege und sieht, wie der Mittelstand erhebliche Probleme mit den Energiekosten hat und die Bürger/innen unter den gestiegenen Kosten für Energie leiden. Denkbar wäre zur spürbaren Senkung der Energiepreise Verzicht auf oder Reduzierung der Mineralölsteuer. Demgegenüber stehen aber die enormen Aufwendungen des Bundes, die für Hilfeleistungen in der Flüchtlingswelle, die Finanzierung der Bundeswehr und der Energiekosten des Bundes (Energiespeicher) aufgebracht werden müssen. Für deren Schulden ja die nächste Generation aufzukommen hat. Da Gas knapp zu werden droht, sind auch künftige Gaskraftwerke nicht zu planen und so wird überlegt, Kohle- und möglicherweise auch Kernkraftwerke länger laufen zu lassen. Erneuerbare Energien sind eben nicht aus dem Boden zu stampfen, um zeitnah Energie zu produzieren.

Frage:  Wie sieht Alexander Müller ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzung?

Antwort:  Völlig unklar, wie ein Ende aussehen könnte. Es müssen alle diplomatischen Wege ausgeschöpft werden. Auch die, die es Putin ermöglichen, sein Gesicht zu wahren. Obwohl es unmöglich erscheint, seinen derzeitigen Maximalforderungen zu entsprechen. Ohne die Hilfe internationaler Vermittler können das wohl die Europäer alleine nicht stemmen. Bestenfalls bleibt China neutral und wie so oft, wird eine Instanz oder Person gebraucht, die die Konfliktparteien anerkennen.

Bildunterschrift: Fragen zum Ukrainekrieg an MdB Alexander Müller (vorne) von Haiko Kuckro und Eberhard Heyne